Marine und Umsturz

Von Kapitän zur See a.D. v. Waldeyer-Hartz

 

Aus: Gadow (Hrsg.) 1924: Die deutsche Marine in Vergangenheit und Gegenwart. Berlin: August Scherl, S. 31-37

 (Bearbeitet und neu herausgegeben von Friedemann Prose, Februar 2013)

 

Die Gründe des Umsturzes zu erforschen, muß man tiefer schürfen und weiter zurückgreifen, als gemeinhin angenommen wird. Es darf vor allem nicht in den Fehler verfalle werden, die Meuterei bei der Marine als eine Sondererscheinung aufzufassen, deren jäh aufbrausender Sturmwind das deutsche Volk in den Abgrund gestoßen habe. Wahr ist vielmehr, dass die Kräfte, die zum Umsturz trieben, bereits mit Kriegsausbruch ihr unheilvolles Werk begannen und überall im deutschen Volke ihre Saat ausstreuten. Von Kiel ist im November 1918 lediglich der Stein der Revolution ins Rollen gebracht worden. Dass er über das ganze Deutsche Reich binnen wenigen Tagen seinen Weg finden konnte, beweist deutlicher als alles andere, dass umfassende Vorbereitungen getroffen waren und dass eine politische Partei des Umsturzes bestand. Hierüber besteht kein Zweifel mehr, seitdem literarisches Beweismaterial in Hülle und Fülle vorliegt.

 

 

Es sei hier nur auf eine Schrift von Popp und Artelt (Ursprung und Entwicklung der November-Revolution) hingewiesen. In ihr heißt es: „Nirgends zeigt sich der Zusammenhang zwischen der deutschen November-Revolution und der zielbewussten revolutionären Propaganda der Unabhängigen deutlicher als gerade in Kiel. Das Ziel der Bewegung war 1917 die Erzwingung des Friedens und die Durchführung der sozialistischen Revolution. Usere Absicht war es, den Krieg durch die Revolution zu beenden. Demnach war es eine völlige Verkennung des Charakters der Bewegung, wenn man sie lediglich als eine Folge des geplanten Flottenvorstoßes vom Oktober 1918 ansah und glaubte, sie durch Straffreiheit und sonstige Konzessionen beendigen zu können. Die Revolution in ganz Deutschland war unabwendbar. Bestimmte Unterlagen waren vorhanden, dass es kein Regiment gab, das im Sinne des alten Regimes als zuverlässig gelten konnte. Der Flottenvorstoß war nur der letzte Anlaß, der die Bewegung auslöste. Ihre Ursachen waren politischer Natur und entsprangen dem entschlossenen Willen der Soldaten und Arbeiter, das alte Regime zu beseitigen. Dass die Bwegung von Kiel aus sich über ganz Deutschland verbreitet hat, ist kein Zufall. Während bei den Landtruppen durch den schnellen Wechsel der innere Zusammenhalt fehlte, waren bei der Marine immer dieselben Leute zusammen, wodurch die Möglichkeit zur Bildung revolutionärer Gruppen als Ausgangspunkt einer zielbewussten und großzügigen Bewegung von vornherein am ersten gegeben war.“

Mit diesen Ausführungen, die von Marineangehörigen niedergeschrieben sind, ist im Grunde genommen das wesentlichste über die Marinemeuterei gesagt.

 

 

Wer die Dinge mit ehrlichen Augen betrachtet, wird rückhaltlos zugeben müssen, dass die Saat des Umsturzes, die bereits im Sommer 1917 ausgelegt war, nicht entfernt in dem Maße hätte aufgehen können, wie es geschehen ist, wenn die Hochseeflotte stärker ausgenutzt und lebhafter an den Feind gebracht worden wäre. Im Sommer 1917 lagen die Verhältnisse noch so, dass es der militärischen Gewalt leicht geglückt wäre, des Aufruhrs der verführten Flottenmannschaften endgültig Herr zu werden und die Masse der Gutgesinnten in ihrer Haltung zu bestärken. Anstatt nun aber ein warnendes Beispiel zu geben und die Giftpflanzen, die das Allgemeinwohl zu überwuchern drohten, mit Stumpf und Stiel auszurotten, wie die Frontkommandostellen es wünschten, begnügte man sich trotz der Schwere und der Gefahr der Vorfälle mit einer völlig unzulänglichen Ahndung. Wen letzten Endes die ungeheure Scguld trifft, dass hier nicht mit eisernem Besen gekehrt worden ist, bleibe dahingestellt. Eines steht jedenfalls fest: Auch hier hat jene Weichheit geherrscht, die durch Nachgiebigkeit zu überzeugen glaubte in Wahrheit aber den Gegner dadurch nur ermutigte und sich vom Gehege der Paragraphenweisheit in echt deutscher Gründlichkeit den Ausweg ins Freie versperren ließ. Als Laschheit und Weichheit im Sommer 1917 die Oberhand gewannen, da hat man dem deutschen Volke das Tor zu seinem Leidenswege aufgestoßen. Denn nun war allen, die seit Kriegsausbruch an Umsturz dachten, klar, dass die Angst vor der Straße, die Angst vor unruhigen und revolutionären Elementen als bestimmender Zähler galt.

 

Am 5. Oktober 1918 war von seiten Deutschlands das Waffenstillstandsangebot an den Präsidenten Wilson erfolgt, und das Reichskabinett hatte seine Umgestaltung im Sinne des parlamentarischen Systems vollzogen. In heldenhaftem Ringen, das in seinen Einzelheiten zu den Großtaten des Krieges gehört, wehrte die deutsche Westfront alle Durchbruchsversuche des an technischen Kampfmitteln weit überlegenen Feindbundes ab und zwang unsere Gegner zum nahezu restlosen Verbrauch ihrer Reserven so dass ein geplanter Großangriff über Lothringen hinweg, der uns den Todesstoß versetzen sollte, nicht zur Ausführung gelangte. Auf Drängen der Vereinigten Staaten von Amerika wurde am 20. Oktober der U-Bootkrieg eingestellt. Damit stand die gesamte U-Bootwaffe, weit über hundert verwendungsbereite Boot, dem Hochseechef zur rein militärischen Verwendung zur Verfügung. Demgemäß fasste die Flottenleitung den Entschluß, den schwer bedrängten rechten deutschen Heeresflügel bei seinem Rückzuge durch Flandern dadurch zu entlasten, dass ein Vorstoß gegen den Englischen Kanal unternommen werden sollte, der angesichts der Kräfteverhältnisse große Aussicht auf Erfolg bot. U-Boote du Minen sollten dem englischen Gros auf seinem Anmarsch tüchtig zu schaffen machen du der deutschen Hochseeflotte den Weg zu einem vernichtenden Schlage öffnen. Inzwischen hatte aber das Gift der Verhetzung an Bord der großen Schiffe in aller Heimlichkeit tief und weit um sich gefressen. Die Unterstellung der Kommandogewalt unter die Zivilgewalt, die Aufgabe des U-Bootkrieges, der Zusamenbruch unserer Bundesgenossen, die Meuterei in der österreichisch-ungarischen Marine und der Rückzug von der flandrischen Küst, die vom Marinekorps während des ganzen Krieges tapfer gehalten worden war, das alles hatte selbst bei den Gutgesinnten- und sie waren bei weitem in der Überzahl- den Glauben an unsere gerechte Sache untergraben und die innere Festigkeit zum Wanken gebracht.

 

Und dann kamen jene traurigen Stunden, wo Heizer an Bord der Großkampfschiffe sich weigerten, die Kessel zu bedienen wo sie die Heizräume absperrten und das Feuer aus den Kesseln rissen; wo Matrosen das Vorschiff an Bord besetzten, elektrische Beleuchtungsanlagen zerstörten, Spinde mit Munition erbrachen, das Ankerlchten verhinderten und Scheinwerfer unbrauchbar machten. Auf „Friedrich dem Großen“ wurde am 31. Oktober früh ein gedrucktes Hetzblatt übelster Art gefunden, auf dem zu lesen stand, dass „Männer und Söhne von deutschen Müttern des Massenmordes wegen wohlfeiler seien als Schweine“. Gesinnungstreue Mannschaften wurden unter dem schärfsten Terror gehalten. Man drohte ihnen mit Mord und Totschlag. Besonders groß war die Wut auf solche Flottenteile, die sich der Bewegung nicht sofort anschlossen. So wurde Leuten vom Großen Kreuzer „Seydlitz“ von Arbeitern und Matrosen zugerufen: „Euch königstreue Schufte schlagen wir tot!“. Im Gegensatz hierzu ist es höchst bemerkenswert, dass viele ältere Leute auf  „die Kindereien an Bord“ schimpften, und dass vor allem die Besatzungen der Torpedoboote und U-Boote, die vom Laster des Müßigganges nicht angefault waren und darob von den Aufrührern bereits am 31. Oktober mit Schimpfworten, wie „Bluthunde“ und „Polizeihunde“ , bedacht wurden, das Verhalten der Linienschiffe äußerste missbilligten.Die Kommandogewalt griff in der Weise durch, dass man Massenverhaftungen vornahm. Außerdem fanden in wohlwollendster Weise Belehrungen statt. So hieß es in einem Erlaß des Flottenchefs: „Wir wollen kein nutzloses Opfer vor dem ersehnten Frieden. Wir wollen aber in starker Einigkeit uns mit scharfen Waffen vor die Tore der Heimat stellen, bis der Friede wirklich da ist. Darauf vertraut die Heimat, das sind wir der Heimat schuldig, dafür müssen wir alles hergeben, bis zuletzt!“. Worte, die heutzutage jeder vertsehen und billigen würde. Auf einzelnen Schiffen kehrte auch die Besinnung wieder. Die Leute gaben selbst die Agitatoren an und baten um deren Abkommandierung. Auffallend war hierbei, dass gewisse Agitatoren sich kurz vor dem Ausbruch der Unruhen hatten beurlauben lassen; sei es, um sich in Sicherheit zu bringen, oder auch, um in der Hinterhand zu bleiben.

 Die Massenverhaftungen offenkundig unbotmäßiger Leute dienten den Hetzern an Bord nur als neuer Zündstoff. Sie haben ihn weidlich ausgenutzt, um den Geist jener falschen Kameradschaft zu wecken, der solche Verhaftungen nicht zulassen dürfe. Als der Flottenchef die Überzeugung gewann, dass es zunächst darauf ankäme, an Bord der Schiffe Beruhigung eintreten zu lassen, verteilte er die einzelnen Geschwader auf verschiedene Häfen und Liegeplätze. Auf diese Weise kam das I. Geschwader nach Brunsbüttel und das III. Geschwader nach Kiel. Und nun nahm das Unglück seinen Lauf. Kiel war nicht minder verseucht als Wilhelmshaven. Auch hier hatten die Leiter des Umsturzes gut vorgearbeitet. Bereits am . November fand abends im Gewerkschaftshaus eine Versammlung statt, die zumeist von Leuten des Linienschiffs „Markgraf“ besucht wurde. Der nächste Tag sah Demonstrationen auf dem Exerzierplatz. Diese Veanstaltung schloß mit einem Hoch auf die U.S.P.D. Alle Mittel der Beruhigung seitens der Vorgesetzten versagten, es kam zu den bekannten Zusammenstößen und zum Setzen der roten Flagge auf fast allen Schiffen.

 

 

Wie kümmerlich und mangelhaft trotz allem der Umsturz verlief, wie wenig Großzügiges er an sich hatte, geht am besten aus dem bekannten Buche Noskes „Von Kiel bis Kapp“ hervor. Er spricht von „kopflosem Durcheinander“ und erzählt von dem Haupträdelsführer Artelt, dass dieser ihm auf die Aufforderung, einer Schießerei Einhalt zu tun, erklärt habe, er denke nicht daran, sich auch nur im Geringsten einer Gefährdung auszusetzen.

 

Am 6. November waren in der ganzen Marine die Würfel gefallen. Nur wenige Schiffe und verschiedene U-Boots- und Torpedobootsverbände hielten damals noch die Flaggentreue. Viele der sogenannten Revolutionäre nutzten die gute Gelegenheit aus, um sich am Schiffsinventar oder auch am Besitz ihrer Kameraden zu bereichern; eine kennzeichnende Erscheinung, die ich selbst sehr gründlich wahrgenommen habe, die aber auch von Noske in seinem Buche bestätigt wird.

 

Es ist bekannt, dass meuternde Marinemannschaften in wenigen Tagen ganz Deutschland überfluteten, ja selbst bis in den Rücken der Front vordrangen. Wer aus den vorstehenden Ausführungen ersehen hat, dass die Bewegung nicht plötzlich ausbrach als Auflehnung gegen eine Ungerechtigkeit, sondern politisch wohlorganisiert war, wird sich über diese Freizügigkeit kaum mehr wundern können. Bereits am 5. November standen Hamburg und Bremen, aber auch Düsseldorf vor dem Umsturz. Am Tage darauf war er nicht nur in diesen drei Städten, sondern auch in Köln, Hannover und Magdeburg vollzogen. Am 10. November, am gleichen Tage, als die IV. Armee ihren roten Soldatenrat wählte, wurde auf allen Schiffen der eist so stolzen Kaiserlichen Marine rote Toppflaggen gesetzt, um den Sieg der Revolution zu verkünden. Die Mannschaftsküchen erhielten Anweisung, für besonders gutes Essen zu sorgen, und ein Flugblatt „An Alle“ ging in die Welt. Es lautete: „Der erste Sieg ist errungen, die erste Schanze ist genommen! Es anderer Sieg als der von Tannenberg, ein Sieg, der kein Blut gekostet hat, der keine Familie in Unglück und Trauer versetzt hat, ein wirklich segensreicher Sieg! Die Freiheitsgöttin schwebt über uns! Die große Stunde der Völkerbefreiung hat geschlagen, das Feuer der Revolution wird übergreifen auf die ganze Welt!“

 

Der rote Zauber verblasste aber nur zu bald, als man es mit den Engländern zu tun bekam. Und so sah man sich bereits am 13. November genötigt, in einem zweiten Flugblatt, das die geforderte Auslieferung der Schiffe betraf, zur tätigen Mitarbeit bei der Abrüstung anzuspornen. Auch aus diesem Flugblatt sei ein besonders kennzeichnender Satz mitgeteilt. Er laute: „Erfüllen wir die Bedingungen, so kehren die Schiffe ei Friedenschluss zurück. Erfüllen wir sie nicht, so kommt der Engländer, nimmt uns unsere Flotte für immer fort und beschießt Wilhelmshaven!“  Die kurze Spanne Geschichte, die hinter uns liegt, hat bereits gelehrt, dass sich die Verfasser beider Flugblätter mit ihrem Phrasengedresch gründlichst geirrt haben. Das deutsche Volk wird gut tun, auf solche Stimmen fürderhin nicht mehr zu hören.

Es ist viel über die Schuld der Marine am Zusammenbruch geredet und geschrieben worden. Aus dem Buche des Obersten Bauer „Der Große Krieg in Feld und Heimat“ und auch aus Ludendorffs Veröffentlichungen geht einwandfrei hervor, dass auch bei einzelnen Truppenteilen der Armee die Zersetzung sehr weit vorgeschritten war. Oberst Bauer schätzt die Zahl der Drückeberger bereits im April 1918 auf eine halbe Million, im September 1918 hat sie auch nach ihm über anderthalb Millionen betragen. Leute des Ersatzes verweigerten damals schon ihre Einziehung. In Versammlungen, Fabriken und Kneipen wurde unverhohlen der Widerstand gegen den Militärdienst gepredigt und zugleich die Fahnenflucht empfohlen. Nach Bauer sollen schon im August 1918 insgeheim Soldatenräte bei den Etappentruppen bestanden habe. Diese Ausführungen mögen genügen, um darzutun, dass es sich nach keiner Richtung hin rechtfertigen lässt, die Marine die Alleinschuld am Zusammenbruch in die Schuhe schieben zu wollen.

 

Und allen denen, die es dennoch tun, sei zugerufen: „Sperrt eure Leute während viereinhalb Jahren Krieg in öde Eisenbaracken ein, wie es die leergeräumten Schiffe waren; lasst sie nur einmal in der Zeit Fühlung mit dem Feinde gewinnen und haltet dann, wo die Not handgreiflich im Lande umgeht, Manneszucht unter ihnen!“ Jeder Gerechtdenkende wird zugeben müssen, dass es für die Flotte , so fehlerhaft man sie ausnutzte, weit schwieriger als für die Armee war, die Mannschaften vor der Gefahr der Langeweile und des Brachliegens zu bewahren. Dass die Umstürzler diese Gefahr klar erkannt hatten und in ihr einen besonders günstigen Aufnahmeboden für ihre Ziele erblickten, geht zur Genüge aus den oben besprchenen Erklärungen von Popp und Artelt hervor.

 

Wären Ausbildung, Diensthabhandung und Manneszucht bei der Flotte nicht vorzüglich gewesen, woher hätten dann der Geist der U-Boote und Torpedoboote, der Geist von Coronel und von den Falkland-Inseln, die militärische Leistung vorm Skagerrak und der Wagemut der Kreuzer im Auslande gestammt ? Wer die Schuldfrage am Zusammenbruch Deutschlands stellen und beantworten will, kann lediglich zu dem Ergebnis kommen, dass das deutsche Volk in seiner Gesamtheit schuldbeladen ist. Mit dieser Erkenntnis ist viel gewonnen. Sie führt uns auf den Weg des Aufstiegs. Und noch ein anderes muss uns geleiten, das ist der Glaube an Deutschlands Zukunft. Ihn lassen wir uns- trotz allem - durch nichts und niemand rauben!