Wiege der Revolution in Kiel

 

Aus

Seelig, Geert (1920). Eine deutsche Jugend. Erinnerungen an Kiel und den Schwanenweg. Hamburg, Alster Verlag, S. 5f.

 

Angefangen den 1. Dezember 1918

 

 

 Meine Vaterstadt Kiel ist die Wiege der großen deutschen Revolution geworden ! Hier hatten der Krieg und seine Begleiterscheinungen den Zündstoff aufgehäuft, der in wenigen Tagen das ganze deutsche Vaterland in Brand setzen sollte ! Alles andere eher als dies hätte man von der halbverschlafenen kleinen Hafenstadt meiner Jugend vermuten können, in deren schwerfällige und bequeme Altväterlichkeit und Gemütlichkeit damals das neue Preußentum mit seiner Hast und seiner Genauigkeit, mit seinen lieblosen militärischen und bürokratischen Formen, mit seinem Hackenaneinanderschlagen, mit seinen harten Konsonanten und kurzen Vokalen den ersten gärenden Sauerteig der neuen zeit hineinzutragen sich bemühte !

 

Auf dem großen Exerzierplatz, wo früher an den Jahrmärkten die Karussells sich drehten und der wahre Jakob aus Amerika seine Schundwaren ausbot, hat die einleitende Matrosen- versammlung getagt, aus der Waldwiese, wo wir, die jugendselige Primanerliebe im Herzen, so manchen klaren Wintertag Schlittschuh liefen, sind die Waffen für die junge Garde der Revolution geholt, an der Ecke der Brunswiek und Karlsraße, wo links die „Hoffnung“, das alte Haus der Brunswiekergilde, stand, wo ehemals das Eckhaus mit Strohdach und den grünen gegossenen Ochsenaugenscheiben in sich zusammen sackte und später uns Johann Adolph seine schönen „Bontjes“ verkaufte, haben Gewehrschüsse geknattert, Maschinengewehre getackt, sind die Revolutionäre gefallen, hat der kommandierende Marineleutnant in getreuer Pflichterfüllung blutend auf dem Pflaster gelegen.

 

Mein alter täglicher Schulweg, den ich mit aufhorchender Knabenseele, in unbewusster geistiger Dehnung so manches liebe Jahr gewandert bin, der unser Schulgeschwätz, das Lachen und Rufen der Freunde, von denen jetzt schon so mancher dahingegangen ist, getreu wiedergehallt hat, ist nun für alle Zeiten, so lange es deutsche Geschichte gibt, mit einer unvertilgbaren Blutspur gezeichnet !

 

Mich haben die Geschehnisse an diesen Örtlichkeiten mit bebender Gewalt gepackt...

 

(Bearbeitung FP, 2012)