Wir begegnen hier einer spannenden Abfolge von Baukomplexen, die beispielhaft wie im Zeitraffer architektonische Entwicklungen des beginnenden 20. Jahrhunderts vor Augen stellt - und zugleich die Abkehr vom eher schematischen Militärbau der 1870er Jahre deutlich macht. Da sind die Pavillonbauten samt turmbekröntem Verwaltungsgebäude des ehem. Marinelazaretts an der Weimarer Straße (1902/03-07, nach 1945 Anschar-Krankenhaus), eingebettet in parkartige Grünflächen und umfriedet von hohen Pfeiler-Gittern, die für sich allein schon Denkmalwert haben. Unter hohen roten Ziegeldächern, die der alte Kasernen- und Krankenhausbau nicht kannte, sehen wir eine betont koloristisch angelegte Backstein-Putz-Architektur, die sich vom älteren Schema der gesimsgeteilten Stockwerksfassaden und überhaupt von den Schablonen spätgründerzeitlicher Bauratsarchitektur löst. Gleich daneben die imposante Phalanx der Marine-Kasernen (1902/04-10); auch sie ursprünglich bestimmt vom Wechsel zwischen Putz- und Backsteinflächen (heute durch die egalisierende „Fassadenbehandlung“ großenteils verändert). In jeder Hinsicht jünger scheint vor diesem Hintergrund der gruppenbauliche Backsteinkomplex der nunmehr ehem. Technischen Marineschule (TMS, 1911-13) an Arkona- und Herthastraße, der sich anders als noch die Marineschule in Flensburg-Mürwik (1907-10) entschlossen von allem Historismus löst, sich stattdessen zum nun aktuellen Backstein-Neubarock der Reformzeit bekennt und sich dergestalt in die erneuerte Tradition heimischen Backsteinbarocks eingemeindet.
Als städtebauliche Dominante und „sakrale Überhöhung“ des Marine-Quartiers erhebt sich davor die großartige Petruskirche, die von den Karlsruher Reformarchitekten Robert Curjel und Karl Moser 1905-07 erbaute Ev. Marinegarnisonkirche samt Pastorat und flügelartigem Marine-Dienstgebäude, das den Anschluss an die Kasernen herstellt. Vollendet also im selben jubiläumsträchtigen Jahr 1907, in dem auch der „Anschar-Komplex“ fertig wurde.
Die Petruskirche darf man füglich zu den bedeutendsten Leistungen deutscher Sakralarchitektur des frühen 20. Jh.s zählen, die sich auch mit Theodor Fischers berühmter zeitnaher Garnisonkirche in Ulm messen kann. Ein Wendepunkt in der hiesigen Kirchenbaukunst ohnehin. Auf eine Formel gebracht: Was dort die Aufsehen erregende, innovative Verbindung von Backstein und Sichtbeton, war in Kiel-Wik der Zusammenklang von purem Backstein und monumentalem Holzwerk des offen einsehbaren Dachstuhls. Die Wiker Kirche imponiert gleichermaßen durch die denkmalhafte Wucht des westriegelartigen Turms, der von der Seite her dagegen überraschend schlank erscheint, wie durch die weite stützenlose Hallenräumlichkeit des Kirchensaals. So dürfen wir hier schon einmal die beiden Hauptwirkungen zusammenfassen, die das bedeutende Kieler Baudenkmal schon zum Tag der Einweihung als Garnisonkirche (18. Dez. 1907) zum architektonischen Ereignis machten. Nun, der baukünstlerische „Ereignis“-Charakter, jene unmittelbar packende Wirkung von Monumentalität der Gesamtform und Originalität der Einzelform hat sich bis heute ungeschwächt erhalten. Der Kirchenneubau in der Wik, keine katholisch-evangelische Simultankirche mehr wie noch die alte, streng neugotische Garnisonkirche am Niemannsweg (heute Pauluskirche, 1879-82), sollte ausdrücklich ein architektonisches Bekenntnis zum 20. Jh., ein Bau des neuen Jahrhunderts werden.
Die Technische Marineschule im Rücken, die Kasernen zur Seite, erstreckt und erhebt sich gegenüber dem Anscharpark-Komplex, mauerumschlossen, eine überaus geschickt gruppierte und bis dahin ungekannt materialhomogene Backstein-Formation. Die zwei- und dreigeschossigen Baukörper des Pastorats wie des nach vorn ausgreifenden Marine-Dienstgebäudes von 1909, beide unter hohen Ziegeldächern zwischen anschwingenden Stirngiebeln, erscheinen massenkompositorisch wie flügelartige „Ausleger“. Sie balancieren und befestigen das Gewicht der Gesamtbaumasse, nehmen gewissermaßen Fühlung mit der baulichen Umgebung auf. Der Kirche nur durch abrückende eingeschossige Trakte - Konfirmandensaal und Arkadengang - verbunden, wahren sie respektvolle Distanz zum breitstirnigen Backstein-Massiv des Turms, geben ihm Raum zu ungehindertem Auf- stieg und lassen so auch das mächtige ziegelrot leuchtende Satteldach des Kirchenschiffs mitsprechen. Geschickt auch, wie die Stellung des Pastorats im Winkel zum Kirchenschiff einen intimen, von hoher gestalteter Mauer umschlossenen Kirchgarten vom öffentlichen und offenen Vorhof trennt. Beherrschend, von unerhörter Wucht, bleibt die Wirkung des westriegelartigen Turms. Eine Wucht, die aber nichts Bedrohliches hat, vielmehr hochgespannt und positiv „überwältigend“ erscheint.
Dass diese eminent „erhebende“ Wirkung - zumal aus der Perspektive der künftigen Bewohner im „Anschar-Park“ - sich überhaupt so zwingend um den großen Distanzraum des Vorhofs entfalten konnte, verdanken wir ausdrücklich städtebaulichem Bedacht. Noch im Juli 1905 sahen Curjel und Mosers Pläne die Kirche samt Trabanten fast unmittelbar an der Adlabertstraße, traditionell mit dem Chor nach Osten, so dass vom Lazarett her gesehen die Langseite der Kirche ins Bild getreten wäre. Garnison-Bauinspektor Adelbert Kelm, bis 1902 noch Stadtbaurat in Gleiwitz und städtebaulich erfahren, wirkte im Verein mit Kiels Stadtbaurat Georg Pauly darauf hin, die herkömmliche Ost-West-Gerichtetheit hier ausnahmsweise aufzugeben, stattdessen die Anlage um 90 Grad zu drehen, die Kirche dergestalt stadtwärts nach Süden zu richten, damit die Schauseite der Kirche nicht ausgerechnet abstandslos vor den hochbordigen Mietshäusern der Adalbertstraße stehen müsse, was man für ein Gotteshaus als „bedrückend“ empfand. Die Wendung in die ungewohnte, aber hier städtebaulich zwingend gebotene Nord- Süd-Orientierung schuf über den so ermöglichten weiten Vorhof hinweg ungleich bessere Maßstabsverhältnisse, wirkungsvollere Prospekte und eben jene markante städtebauliche Fernwirkung.
Curjel und Moser schufen hier - für ihre Herkunft aus dem süddeutschen Natursteinbau vielleicht erstaunlich - einen gleichsam totalen Backsteinbau, wenngleich in latent klösterlichen Großziegelformaten, die hierzulande bald kaum noch verwendet werden. Hier wurde entschlossen Materialeinheit geprobt, von den Einfriedigungen über die Wände und Fensterlaibungen bis hin zu den großen Ziegeldächern - effektvoll gekrönt vom Kupfergrün des Turmhelms wie der Hauben über den polygonal aufgefalteten Treppentürmchen zu Seiten der großen dreibogigen Portalloggia. Wie lange kein Norddeutscher mehr vor ihnen suchten die Schöpfer der Wiker Kirche, die farbkräftigen Wirkungen des überlieferten norddeutschen Rot- Grün-Kolorits auch im Kirchenbau wieder zur Geltung zu bringen. Die Garnisonkirche verzichtete. erstmals im Lande vollständig auf alle plakativ geweißten Blenden an Turm und Schiff, zeigt mutig großflächig pure gliederungslose Wand. Süddeutsch undogmatisch erscheint jene schöpferische Unbefangenheit, mit der hier assoziativ Romanisches (Turmschaft, Portalarkaden) mit jugendstilig aktualisiertem Tudorgotischen (Schallöffnungen, Maßwerkfüllungen) und endlich mit Jugendstil-Barockem (z.B. Giebelanschwünge am Pastorat) verbunden wird - in der Einheit des Materials.
Glatte, d.h. allein ziegelstrukturierte Wand wird aufgeschlossen durch Profilstäbe in den Fenstergruppen, durch füllig plastisches Ziegelprofil in Fenster- und Portalgewänden. Leitform ist die eigens erfundene jugendstilige Neuformung des gut backsteingotischen Taustab-Profils. Neue Formsteine im Drehungsprofil, die auch die Gartenmauern kräftig zieren. Besonders reliefhaft verdichtet sehen wir das Ziegelprofil in den stärker sakralisierten Dreier-Fenstern am Konfirmandensaal. Beherrscht ist das Widerspiel von Schmuck- und Massenform, geradezu komponiert am Turm. Besagte Massenform bricht sich ästhetisch kalkuliert in wenigen öffnenden Leichtformen. Dies in gewissermaßen triangulärer Symmetrie: d.h. die Schallöffnungen zu den großen Portalarkaden samt stabprofilierten Treppentürmchen, oder die einst vollständige grünkupferne Turmhaube samt Uhrenaufsatz zu den besagten kupferbedeckten Hauben der Treppentürmchen.
Im Hinweis auf das „Tudorgotische“ klang es schon an: Bei aller Seemacht-Rivalität mit Großbritannien scheute das Marineamt nicht, Anregungen englischer Architektur aufzunehmen. Englisches begegnet uns am Wiker Kirchenschiff - besser: Kirchenhalle - gleichermaßen innen wie außen. Deutlich sichtbar schon an den gegenüber den hohen Dächern recht niedrig erscheinenden Umfassungswänden mit den rechtwinkligen, stab- und maßwerkgegliederten Fenster-Tafeln, die wir als jugendstilisierte Abwandlungen altenglischer Kirchenfenster des Perpendicular-Stils sehen.
Wir betreten den nicht sogleich „sakral“ erscheinenden Kirchenraum und haben den spontanen Eindruck von fast irritierender Weite. Weder Stützen, wie gesagt, noch seitliche Emporen wirken engend in den Raum hinein. Und auch jene eher niedrigen Seitenwände, befestigt nur durch die stämmigen, den Dachstuhl tragenden Wandpfeiler, geben mit ihren wandzehrenden Transparenten der Maßwerkgitter eine sehr durchlichtete räumliche Fassung, bei starkem Lichteinfall fast entgrenzend. Festigend wirkt wiederum die Einheit eines Materials, die auch das Innere bestimmt: Backstein sind Chor- und Orgelwand, Wandpfeiler und stark abstrahierte Kapitelle, besagte Maßwerk- und Stabprofile, Kanzel, Taufe und Altar. Altar meint hier natürlich das ursprüngliche, zeitgerecht wandhafte Altarretabel vor jugendstilig dunkel ausgemaltem Chorgrund (das nach 1933 durch Otto Flaths figurenreiches Altarschnitzwerk vor allzu heller Chorwand ersetzt wurde). Befreit von normalen pfarrkirchlichen Raumkonventionen erfüllten Curjel und Moser mit eindrucksvoller Konsequenz die Gebote der fortschrittlichen protestantischen Kirchenbau- und Liturgiereform um 1900: die protestantische Predigtkirche als hierarchieloses Versammlungs- und Gemeindehaus. Der querrechteckige Kastenchor, ein kurzer Stollen nur, dient(e) nurmehr als räumliche Hinterfangung für den einstigen steinernen Altar. Im Lichte (des Evangeliums) stand allein gut protestantisch die wandfeste taustabprofilierte Kanzel.
Der Raum zeigt also in seiner ungewohnten Breitendehnung kaum noch herkömmliche „Gerichtetheit“, die sofort sichere Orientierung gibt. Soghaft, ja suggestiv, wird vielmehr der Blick nach oben geführt - und aufgefangen, besser: gefangen genommen vom Braun-Dunkel der offen aufsteigenden Konstruktion des eichenen Dachstuhls. Die maritime Symbolik liegt offen zutage. Der Dachstuhl erscheint groß und bergend wie ein kieloben aufgedockter Schiffsrumpf, der schwer, aber nicht lastend auf den kurz-kräftigen Wandpfeilern aufliegt. Ungemein bildhaft wird dergestalt das sprichwörtliche Kirchen-„Schiff“.
Endlich haben die Karlsruher Architekten auch die denkmalpflegerisch begründete Annahme beherzigt, dass „bei festlichen Anlässen die malerische Wirkung des Innenraums durch Aufhängung von Fahnen, Teppichen und sonstigem farbigen Wandschmucke erhöht wurde“. Nicht anders deuten wir die hoch im Wiker Dachstuhl eingehängten teppichartigen Schmucktafeln (im Krieg beschädigt), ebenso die jugendstilig abstrahierten Flächen- und Pflanzenmuster am getäfelten Auflager-„Architrav“ über den Seitenwänden oder an der Brüstung der Orgelempore. Die für die Zeit bezeichnenden Jugendstil-Nuancen drängen sich nicht auf, nicht die „Stoffmuster“ an den Unterseiten der Binder oder die vergoldeten „Tropfen“ an Pfeiler-Kapitellen und Altar-Mensa. Das gilt zumal für die typisch jugendstilig-tektonisierten Lampenbatterien, die sich nach unten im Dreieck verjüngen und so als helles lyrisches Widerspiel zur dunklen Pyramide des Dachstuhls wirken wollen.
Die in jeder Hinsicht besondere Architektur der Wiker Kirchenhalle erweist sich – wie ihre jüngereNutzungsgeschichte nach 1945 lebendig bezeugt – in beinahe idealer Weise gleichermaßen offen für die beiden großen „K“-Erfahrungen – Kirche und Kultur -, denen hier hoher und weiter Resonanzraum gegeben ist. 1944 durch Bomben beschädigt, wurde die Petruskirche bis 1949 wiederhergestellt und der zivilen Kirchengemeinde Kiel-Wik als Gotteshaus überlassen, für den normalen Gemeindebedarf fast übergroß. 1981, als die Petrus-Gemeinde die eigene Lukaskirche beziehen konnte, gab man die ehem. Garnisonskirche an den Fiskus zurück. Rettung bedeutete die Initiative des Kirchenkreises Kiel (unterstützt vom eigens gegründeten Förderverein für die Petruskirche), der die Kirche samt Pastorat 1984 für eigene kirchliche Zwecke erwarb. Der gegebene Ort auch für die Militärseelsorge, hier ihre Standortgottesdienste abzuhalten. Weit über die Wik hinaus drang jedoch bald die neue „Karriere“ der Petruskirche als kultureller Veranstaltungsort – als „Kulturkirche“ –, die gleichwohl, wie Kirchenkreis und Förderverein betonen, ein Gotteshaus bleibt. Aufgrund der viel gerühmten akustischen Voraussetzungen finden hier seit langem jene großen Konzert- und Chorveranstaltungen statt, die die bis dahin eher seitab liegende Wik als einen zentralen Ort auf die Kieler wie auf die schleswig-holsteinische Kultur-Landkarte gesetzt haben.
Hans-Günther Andresen
Eine detaillierte Ausführung des Verfassers findet sich in der Publikation: Die Petrus-Kirche in Kiel-Wik, Andachten, Ansichten, Architektur, hg. v. Förderverein für die Petruskirche Kiel-Wik e.V., Kiel 1997, S.35-65.
Ebenso: Hans-Günther Andresen, Herausragende Kirchenarchitektur der Reformzeit an der Kieler Förde – 100 Jahre Petruskirche in Kiel-Wik; in: Das Münster, 62. Jg., H.1, 2009, S. 64 – 70.
– Ders., Petrus-Kirche Kiel-Wik (Kleine Kirchenführer), Schnell & Steiner, Regensburg 2010